[Gedankenstriche] Eine Zeitschleife. 1 Jahr.

Mittwoch, 3. Februar 2021

Mittlerweile bin ich seit 11 Monaten nicht mehr in der Uni gewesen, jedenfalls nicht regelmäßig, und die wenigen Male, die ich dort in einem Saal oder meinem Büro saß, kamen mir seltsam fremd vor. Aber wenn ich ehrlich bin, erscheint mir vieles aus den vergangenen Monaten fremd und ich kann nicht glauben, dass das alles wirklich war und dass das erst/schon ein Jahr her ist. 
"Habt ihr schon von diesem Virus gehört? Daran sind schon 3 Menschen in China gestorben." - "Krass, nein, noch nicht gehört, wie heißt das?". Januar 2020. 
März 2020, die Buchmesse wird abgesagt, ich sitze gerade in dem letzten Präsenzseminar für eine lange, lange Zeit und weiß nicht, ob ich weinen oder das alles weiterhin völlig suspekt finden soll. Irgendwie ist es doch nicht mehr so weit entfernt, wie ich glaube. 

Kauft Bücher; hamstert Bücher statt Klopapier, sagen sie alle und ich sage es auch und kaufe, kaufe, kaufe, denn die Messe fällt ja aus und da darf man sich schon etwas gönnen. "Wenn ich zurückkomme, ist Sommer" lautet der Titel eines Buches, das ich von meinem tollen kleinen Buchladen zugeschickt bekomme und ich fühle tatsächlich so etwas wie Vorfreude - auf den Sommer, auf das wunderschön aquarellierte Buch und auf die neue Zeit. Fast alle sind zu Hause, es ist gar nicht mal schlecht, in der Mittagspause schnell die Gartenhandschuhe überstreifen zu können und ein bisschen in der Erde zu wühlen. 
Mai.
Ich beschließe, dass wir unbedingt einen Kartoffel"acker" benötigen und hebe per Hand Kubikmeter für Kubikmeter Erde aus.
Juni.
Juli.
August.
Ich sitze vor dem Computer und bin Teilzeitgärtner, Teilzeithaushaltshilfe, Teilzeitmitarbeiter. Der Garten gedeiht, und zwar prächtiger und üppiger als in all den Jahren davor, ich lerne Begriffe wie "Permakultur", "grubbern", "anhäufeln" und "samenfest" und stecke die Finger in die Erde, wenn mir der Kopf nach stundenlangen Meetings raucht. Der Garten ist mein Rückzugsort, mein Workout, meine Meditation, mir schwirren Verse von Fontane im Kopf umher, wenn ich gieße und meine Prüfungsvorbereitung verbringe ich auf einer Decke in der brutzelnden Sonne.
Wir gewöhnen uns ziemlich schnell daran, an das Masketragen und den Abstand, stürzen uns anfangs noch motiviert in Online-Freunderunden und gemeinsame Spaziergänge, dann nicht mehr. Es ist ganz schön langweilig in den Ferien, denke ich und absolviere drei Onlinekurse renommierter internationaler Universitäten. Warum, weiß ich auch nicht, aber ich muss nicht über die Situation nachdenken und erhalte sogar ein hübsches Zertifikat.
Schon wieder verpassen wir eine Ausstellung, klagt meine Familie, wann können wir endlich wieder Kultur erleben? Ich aktualisiere mehrmals täglich die Ticketseite für das Museum, aber das einzige Angebot, das ich erhalte, ist Donnerstag, 17.15 Uhr. Für eine Person.

Mich begleitet Tag für Tag ein dumpfes Gefühl, wie Zahnschmerzen. Das Gefühl, nichts machen zu können für all die Künstler, Friseure, Einzelhändler, die nicht arbeiten können. Nicht arbeiten dürfen. Ich bestelle weitere Bücher in unserem Buchladen und hoffe, dass es ihn auch in einem Jahr noch gibt. Für die anderen kann ich nichts tun. 
Ich kann arbeiten. Schäme mich dafür, dass ich das darf und andere nicht. Schäme mich auch dafür, dass ich bei vielem im Leben bisher mehr Glück hatte als die meisten. Denke über meine Luxusprobleme nach, während Existenzen zu Grunde gehen.
Ich will etwas bewegen, weiß aber nicht was.
Bewege stattdessen Schubkarren voll Erde durch den Garten.
September.
Oktober.
November.
Spiele den Motivator für die ganze Familie. Schau, wie viel du jetzt lesen kannst! Und häkeln wolltest du doch auch mal wieder. Und etwas zeichnen. Auf uns wartet jetzt kein gesellschaftlicher Zwang, wir müssen nichts unternehmen, nur um etwas unternommen zu haben. Aber meine Worte prallen an Wänden aus Verzweiflung und Resignation ab.
Dezember.
Ich blende einfach alles aus, nehme nur noch das Nötigste an Nachrichten auf, lasse nichts an mich heran. Mein Weihnachten soll mir nicht genommen werden. Wir stellen später einvernehmlich fest, dass Weihnachten trotzdem nicht schön war. Ironischerweise die Zeit bis zum neuen Jahr umso erfüllender. Wir spielen Gesellschaftsspiele. Puzzeln. Sitzen gemeinsam am Tisch und basteln Karten. Wachsen als Familie wieder ein Stück zusammen.
Dann kommt der Januar. Neues Jahr, neues Glück? 
Buchmesse: Absage. Aufruf zum Bücherhamstern? Check. Dabei habe ich noch nicht einmal die Bücher aus dem letzten Frühling gelesen. Ich bestelle trotzdem neue. Man kann ja nie wissen. Aber die ganze Szene, Community, alle anderen Buchliebhaber sind mir so fern, als wäre ich der einzige lesende Mensch auf dem Planeten. 
Ich bestelle auch wahnsinnig viel Saatgut und Gartenbedarf, arbeite einen hochwissenschaftlichen Pflanzplan für die Beete aus und bereite mich auf die erneute Flucht vor: die Flucht ins Grün.
Den Kopf in die Erde und nur noch schaufeln, studieren, schaufeln. 



5 Kommentare

  1. Hallo liebe Isa,
    du hast einen Artikel geschrieben, der die letzte Zeit sehr gut wiederspiegelt. Ich denke so, oder so ähnlich, ist es den meisten von uns ergangen. Gärtnern ist nach wie vor nicht mein liebstes Hobby (geworden). Dafür habe ich in der Zeit aber mehr gebastelt und mehr gezeichnet. Ich muss sagen, dass ich ein wenig Angst um die Zukunft habe. Gerade, was die wirtschaftlichen Folgen anbelangt. Aber ich denke es hilft nichts, man muss jeden Tag nehmen wie er kommt und oft kommt es eh alles anders, als man gedacht hat. Man muss das Beste draus machen. Ich freue mich, dass du das Gärtnern für dich entdeckt hast und sogar einige Kurse belegen konntest. Auch finde ich es klasse, dass du deine Buchhandlung tatkräftig unterstützt hast. <3

    Ganz liebe Grüße
    Tanja

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    1. Guten Abend, liebe Tanja!
      Es muss ja nicht direkt jeder zum Gärtner werden; wenn du etwas findest, was dich ähnlich entspannt, ist das genauso gut. Basteln und Zeichnen kann auch sehr meditativ sein, bin ich der Meinung :-) Und das ist wirklich wichtig zur Zeit (aber auch in allen anderen Stresssituationen): sich selbst besser kennen lernen und Methoden finden, sich kleine Pausen zu gönnen. Häkeln und Stricken sind ja auch solche netten "Skills" (habe ich in letzter Zeit wieder häufiger gemacht).

      Angst um die Zukunft ist legitim. Wir machen den Mist jetzt schon ein ganzes Jahr mit und leider muss sich jeder, dem nicht gerade Lufthansa oder Audi gehören, in so ziemlich allem selbst helfen. Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt wissen möchte, was die Zukunft für uns bereithält. Lieber versuchen, jeden Tag so gut wie möglich zu leben, auch wenn sich das leicht sagen lässt.

      Ich hoffe, du kommst gut durch die nächsten Wochen und zeichnest vielleicht etwas Schönes! :)

      Liebe Grüße,
      Isa

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  2. Liebe Isa,
    danke das du mich mit in dein Jahr genommen hast. Ja es ist unvorstellbar was Corona jetzt mit uns Menschen macht. Ich selbst verlor meinen Partner, gut es ist eh eine On-Off Geschichte und das ist echt unlustig. Zudem musste ich aber auch feststellen das Neuanfänge nicht immer glücken. Ich bin seit September 20 wieder an der Schule um meinen Abschluss nachzuholen und fang gerade noch mal bei komplett 0 an, was sogar gut ist, denn der Stoff hat sich komplett verändert. Jetzt im Distanzunterricht fühle ich mich sogar richtig wohl, schwer war es in der Klasse zu sitzen und die Angst vor den Mitschülern zu spüren. Aber nunja.
    Ich bin gespannt was wir nächstes Jahr um diese Zeit über das Leben sagen können und wünsch dir das du gut durchkommst und dich nicht ablenken lässt von dir selbst. Das passiert mir gerade echt häufig. Zudem wünsch ich dir das du dennoch Nähe spüren darfst und auch das es wieder ein Leben geben wird.
    Liebe Grüße
    Nicole
    ps.: Danke für deinen Kommentar auf dem Blog, den ich direkt auch dort noch beantwortet habe :)

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    1. Liebe Nicole,
      tut mir leid für den Verlust deines Partners, aber das Ganze hat sicher auch gute Seiten, oder? Neuanfänge können schwer sein, selbst wenn man sich vorbereitet und darauf eingestellt ist. Ich hoffe für dich, dass alles bald einfacher für dich wird! Viel Erfolg bei deinem Abschluss, ich ziehe meinen Hut vor dir. Mir fällt es im Online-Semester auch leichter, gelassen zu bleiben, auch wenn ich ein bisschen Angst davor habe, wenn wieder alles präsent stattfindet, weil ich definitiv (soziale) Rückschritte gemacht habe. Naja. Wir werden sehen, wie es wird. Jetzt heißt es erst einmal: durchhalten. Wir schaffen das.

      Liebe Grüße,
      Isa

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    2. Liebe Isa,
      soziale Rückschritte hab ich leider auch gemacht. ES ist einfach eine echt blöde Zeit. Ich wünsche dir aber das du gut wieder in die Uni und zu den anderen Menschen findest :)

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