19. Dezember [Literarischer Adventskalender]

Samstag, 19. Dezember 2020

London, 19. Dezember 1855
3 1/2 Uhr morgens

Im Café Divan wieder einmal
Starr' ich still in die flammenden Leuchter,
Das Herz wird weihnachtssentimental,
Und die Wimpern werden feuchter;
Doch zwischen die Tränen tritt Freund Humor,
Ein gemütlich-lustiger Lerse,
Und nur ein leiser Trauerflor
Legt sich um die lachenden Verse.

Ich seh' im Geist ein rumpliges Haus
Und eine rumplige Stube,
Drei Frauen gehen ein und aus.
Und der vierte ist mein Bube;
Die älteste Frau hat schwarzes Haar,
Und die jüngste hat es nicht minder,
Das macht, es ist, wie's immer war,
Es ähneln sich Mutter und Kinder.

Die dritte sieht ihren Knaben an
Unter Lachen und unter Weinen,
Die denkt: ich hab' eine Art von Mann
Und hab' auch wieder keinen.
Der Junge spielt und fährt über See,
Um seinen Vater zu suchen,
Er ruft: "Lieb Mutter mein, ade,
Ich hole den Butterkuchen."

Der Vater, ach, ihm ist nicht nett,
Er muss sich wehren und stemmen,
Er säße viel lieber im Kabriolett
Und passierte Friesack und Kremmen,
Er spränge gern zum Wagen hinaus
Am Kanal und der Kirchplatz-Ecke,
Und schleppte gern in das rumplige Haus
Den besten der Ruprechtsäcke.

Es kann nicht sein; am Londoner Strand,
In Simpsons stolzer Taverne,
Legt an die Stirn er seine Hand 
Und träumt sich ferne, ferne;
Er sieht durch Nebel und über das Meer
Eine Fülle lieber Gesichter,
Und heimisch wird es um ihn her,
Als brennten die Weihnachtslichter.

Theodor Fontane

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Sofern du deinen Kommentar nicht anonym abschickst, werden deine Profildaten gespeichert. Kommentare können vom Nutzer jederzeit wieder gelöscht werden.